8. Mai – Tag der Befreiung?

Second_world_war_europe_1943-1945_map_deWenn wir heute über den 8. Mai 1945 sprechen, dann ist eine Sache unbestritten: Deutschland ist vor 72 Jahren befreit worden. Die großartige Rede, die Richard von Weizsäcker damals zum 40. Jahrestag des Kriegsendes hielt, oder besser gesagt: ihr Kernanliegen, ist uns im Laufe der Zeit zu einer kaum noch hinterfragbaren Gewissheit geworden. Wer würde sich noch trauen, auf die verlorenen Ostgebiete, auf Flucht und Vertreibung, auf die neu errichtete Diktatur zwischen Elbe und Oder zu verweisen – alles redliche Argumente, die aber doch ein wenig sehr nach Alfred Dregger oder anderen Stahlhelm-CDUlern klingen. Es ist doch klar: Wer in Frage stellt, dass Deutschland 1945 befreit worden ist, der scheint dem Dritten Reich offenbar andere Gefühle als nur Scham und Entsetzen entgegenzubringen. Im günstigsten Falle ließe sich über ihn sagen, dass er eine etwas altmodische Vorstellung von nationalem Tschingderassabum und vielleicht ein paar Kriegsfilme zu viel gesehen hat.

Deutschland als Opfer?

Aber kann man die Sache mit der Befreiung nicht vielleicht doch ganz anders sehen? Und zwar nicht, weil man irgendeine Sympathie mit dem Reich oder gar mit dem Regime hegen würde, sondern weil die Sache mit der Befreiung doch etwas komplizierter ist? Anders gefragt: Steckt in diesem Satz, „Deutschland ist befreit worden“, den viele für einen sagenhaften Beitrag zur Bewältigung unserer Vergangenheit halten, nicht eine unglaubliche Anmaßung? Denn wer ist schließlich befreit worden? Frankreich ist befreit worden. Belgien und Holland sind befreit worden. Griechenland ist befreit worden. Die Tschechoslowakei ist befreit worden. Norwegen und Dänemark sind befreit worden. Und Polen ist befreit worden, wenngleich die meisten Polen sich eine andere Befreiung gewünscht hätten und wenig Grund hatten, sich wirklich befreit zu fühlen. Aber Deutschland? Wollen wir uns tatsächlich in eine Reihe mit jenen Ländern stellen, die von Deutschland überfallen worden sind? Wollen wir wieder zurück in die 50er Jahre, als uns weisgemacht wurde, dass Deutschland das erste Opfer der Nazis gewesen sei, dem einfach noch weitere nachgefolgt sind? Die Alliierten haben nicht gegen die Wehrmacht gekämpft, weil sie das Deutsche Reich von Hitler, sondern weil sie Europa von Deutschland befreien wollten.

Wer wurde befreit?

Deutschland ist besiegt worden. Befreit durften sich die Juden fühlen, die es irgendwie geschafft hatten, dem Regime zu entkommen; befreit durften sich die vielen Häftlinge und Zwangsarbeiter fühlen, die im Deutschen Reich eingekerkert waren; befreit durften sich auch Millionen von Deutsche fühlen, die zu den stillen oder nicht ganz so stillen Gegnern des Regimes gehört und schon lange, und zwar nicht erst seit dem Winter 44/45, auf die Befreiung von diesem Regime gehofft hatten. Aber Deutschland als Ganzes? Interessanterweise wird dieser Widerspruch selten erkannt, obwohl doch viele derjenigen, die von Befreiung sprechen, kaum zögern, so gut wie allen Deutschen der damaligen Zeit mindestens das Etikett „Mitläufer“ anzuheften. Spricht hier womöglich die Kinder- und die Enkelgeneration, die ihren Eltern und Großeltern zurufen möchte: Wir sind befreit worden – von Euren Dummheiten, von Eurer Verblendung, von Eurer Unfähigkeit, sich mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen?

Von Weizsäcker war weder Kinder-, noch Enkelgeneration. Ihm ging es in seiner Rede darum, dass die Deutschen den 8. Mai nicht nur als das begreifen sollen, was er primär war, als Schlusspunkt unter einen verlorenen Krieg, sondern auch und vor allem als einen Akt der Befreiung, durch den Gutes geschaffen worden ist, als „Ende eines Irrweges deutscher Geschichte…, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“. Diese Worte waren 1985 wichtig und mehr als nur wichtig. Doch war der 8. Mai deswegen wirklich ein Tag der Befreiung in Deutschland? Ich meine nicht.

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


*