Türkei – Brücken ins Nirgendwo

TürkeiZerknirschung ist angesagt! Martin Schulz hat es vorgemacht, Frank-Walter Steinmeier ist ihm darin gefolgt, und auch einige andere europäische (und amerikanische Politiker) geben sich nun reumütig. Ja, man habe verkannt, wie sehr der Putschversuch vom 15. Juli die türkische Bevölkerung ins Mark getroffen habe und wie heldenhaft der Einsatz des Volkes war, das sich den Putschisten entgegenstellte. Und ja, man habe zugleich unterschätzt, wie sehr es viele Türken gekränkt haben muss, dass aus Europa und den USA nur halbherzige Solidaritätsbekundungen zu hören waren. Deswegen also: Sorry, dass Putin der erste ausländische Staatsmann war, der Erdogan persönlich seine Unterstützung kundtat, während wir, die EU, uns wochenlang rar gemacht haben!

Zu wenig Anteilnahme?
Die Frage liegt auf der Hand: Haben Erdogan, die türkische Regierung und ihre vielen Sympathisanten da nicht einen Punkt? Der Putsch, so viel scheint klar, war keine Inszenierung der AKP, auch wenn dieser spontane Gedanke sich aus vielen Köpfen zunächst nicht vertreiben lassen wollte. Die Putschisten setzten rücksichtslose Gewalt ein, das ist unbestritten. Und überhaupt: Soll man wirklich auch nur ein Fünkchen Verständnis denen gegenüber aufbringen, die im Jahr 2016 mit Panzern und Kampfjets eine zivile Regierung stürzen wollen? Hunderte Menschen sind umgekommen, das ist schlimm und nichts anderes als schlimm. Haben wir also viel zu wenig Anteilnahme gegenüber der türkischen Bevölkerung gezeigt? Haben uns unsere Antipathien, die wir Erdogan entgegenbringen, die Sinne vernebelt?

Das Geschenk
So könnte man es sehen. Aber liebe Unterstützer von Erdogan, die Ihr uns diesen Vorwurf seit Wochen um die Ohren haut: Wie sollten wir denn Entsetzen über einen Putsch zum Ausdruck bringen, den Euer Präsident am Tage danach ein „Geschenk Gottes“ genannt hat? Ein Geschenk Gottes – seht Ihr den Widerspruch? Wie sollen wir kein Unbehagen verspüren, wenn Euer Vorgehen gegen die Putschisten und ihre Sympathisanten (bzw. diejenigen, die Ihr dazu erklärt) einem lange geplanten und dann mit Hochgeschwindigkeit ausgeübten Rachefeldzug gleicht? Und wie sollen wir uns solidarisch mit der Bevölkerung in der Türkei erklären, wenn es die türkische Regierung selbst ist, die diese Bevölkerung spaltet und die kurdische HDP von allen Einheitsbekundungen ausschließt?

Noch immer wissen wir wenig. Es wäre durchaus möglich, dass viele der Inhaftierten tatsächlich Beteiligte des Putsches oder zumindest Eingeweihte waren. Aber wir alle wissen, dass man nicht eben mal Tausende von Lehrern und Juristen suspendieren kann, ohne dabei rechtsstaatliche Prinzipien mit den Füßen zu treten. Wir alle, die wir uns für die Türkei interessieren, können noch so viel Verständnis für die prekäre innere und geostrategische Lage des Landes aufbringen. Wenn Verhaftungen öffentlich inszeniert, Zeitungen verboten und Massenkundgebungen dazu genutzt werden, Gülenisten zu Staatsfeinden zu erklären, die rücksichtslos verfolgt werden müssen, können wir, die wir an Gewaltenteilung, an den Rechtsstaat und an die segensreiche Wirkung einer freien Presse glauben, gar nicht anders, als zusammenzuzucken. Es macht da etwas „Klick“ in uns. Haben wir alles in der Geschichte schon mal gesehen und erlebt. Und nie nahm es ein gutes Ende.

Was uns trennt
Als vor einigen Wochen die Großdemonstration in Köln stattfand, hat mich das vergleichsweise wenig aufgewühlt. Ich habe registriert, wie sehr sich die Demonstranten darum bemühten, ihr Bekenntnis zu Erdogan mit einem Bekenntnis zu Deutschland und ihre deutsche Heimat zu verknüpfen. Das mag man für wenig konsistent halten, aber in diesen Zeiten hat man schon sinnfreiere Parolen auf den Straßen gesehen. Eine Brücke zu bauen, ist meistens eine gute Sache. Aber man muss auch erkennen, was die Türkei gerade von Europa (bzw. vom Nicht-Orban/-Kaczynski/etc.-Europa) trennt, sonst führt die Brücke ins Nirgendwo. Es trennt uns ein fundamental anderes Verständnis davon, welche Grenzen der Politik gesetzt sind, was Pluralismus bedeutet, wie wichtig unabhängige Gerichte und freie Medien sind. Auf diese Unterschiede müssen wir bei allen gemeinsamen Interessen hinweisen, sie können nicht unter den Tisch fallen. Sie müssen angesprochen werden – auch von den Politikern, die nun nach Ankara reisen und der Türkei Solidarität versprechen.                                                                               HM

 

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