Die vermeintlichen Fehler des Martin Schulz

2015-12_Martin_Schulz_SPD_Bundesparteitag_by_Olaf_Kosinsky-1Die politischen Beobachter scheinen sich weitgehend einig zu sein, auch am vergangenen Sonntag (18. Juni) im Presseclub: Martin Schulz, so die dominierende Lesart, habe den großen Fehler begangen, nach seiner fulminanten Inthronisierung als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender keine oder zu wenige Inhalte geliefert und seine politischen Absichten nicht genügend konkretisiert zu haben. Stattdessen sei er öffentlich abgetaucht und musste dann hilflos mit ansehen, wie sein spektakuläres Umfragehoch langsam aber sicher in sich zusammenfiel. Doch ist es wirklich so einfach?

Wenn diese Interpretation richtig wäre, müsste man sich fragen, wo denn eigentlich das Problem liegen soll. Schulz und die SPD steuern eben jetzt das bislang fehlende Programm und die Inhalte bei, und wenn es wirklich das ist, worauf die Öffentlichkeit begierig gewartet hat, dann müssten die Sozialdemokraten eigentlich sehr bald wieder Boden gut machen können. Halt, wird man jetzt einwenden: Das Momentum aus den Februar ist weg. Die Wechselstimmung, die es damals gab, könne man jetzt nicht mehr so ohne weiteres neu entfachen.

Blank war er nicht

Da ist sicherlich etwas dran, doch sähe es heute wirklich anders aus, wenn Schulz im Februar, März, April Inhalte geliefert hätte? Zunächst darf man nicht vergessen, dass er so blank nicht war, wie es heute dargestellt wird. Ein Steuer- und ein Rentenkonzept hatte er damals noch nicht, das ist richtig; aber zum Arbeitslosengeld 1, zu den Kita-Gebühren und noch zu manch anderem Thema hatte er sich bereits früh positioniert. Die Strategie, das Meta-Thema Gerechtigkeit gleich zu Beginn zu setzen, es dann mit einigen Brocken anzureichern, echten Optimismus und Siegeswillen zu versprühen und in den folgenden Wochen und Monaten das Wahlprogramm Stück für Stück auszubuchstabieren, war so unklug nicht.

Illusion 1

Wenn heute geklagt wird, Schulz hätte dies alles viel früher tun müssen, gibt man sich zwei Illusionen hin. Illusion 1: Es sind die Inhalte, die den Oppositionskandidaten an die Spitze der Beliebtheit und dann später auch ins Kanzleramt tragen. Hinter dieser Illusion verbirgt sich nichts weniger als der Wunsch, es würden im Wahlkampf tatsächlich und vor allem Ideen miteinander ringen, und erst dann würden die Kandidaten selber und andere Faktoren ins Spiel kommen. Leider sieht die Wirklichkeit meistens anders aus. Sicher, nur aus Luft darf das Programm des Herausforderers/der Herausforderin nicht bestehen, ein, zwei konkrete Vorhaben müssen schon benannt werden. Aber war es nicht so, dass Gerhard Schröder mit dem reichlich diffusen Slogan, er wolle „nicht alles anders, aber vieles besser machen“, die Wahlen 1998 gewinnen konnte? Die Programmatik war damals kaum ausschlaggebend – auch wenn die SPD sich zu Recht auch heute noch als Programmpartei versteht. Da aber, wo sie Wähler hinzugewinnen muss, in der Mitte, darf das Programm vor allem eines nicht: den Wähler abschrecken.

Illusion 2

Illusion 2: Die SPD und Schulz hätten damals qualitativ hochwertige, vor allem aber attraktive Inhalte in petto haben können, durch die sie in den Umfragen dauerhaft in Sichtweite der Union geblieben wären. Frage: Wie hätten diese Inhalte aussehen sollen? Inzwischen ist man sich weitgehend einig darüber, dass ein Gerechtigkeitswahlkampf in einem Land, das – im Vergleich zu anderen Ländern – wirtschaftlich glänzend dasteht, eine heikle bis aussichtslose Sache ist. Mit einem dezidiert linken Programm könnte die SPD vielleicht verlorene Wähler wiedergewinnen, in der Mitte aber würde sie an Anziehungskraft deutlich verlieren. Der jetzige Ansatz der SPD, mit einer Steuerreform auf eine relativ kleine Entlastung der unteren und mittleren Einkommensgruppen abzuzielen, dafür aber die öffentlichen Investitionen deutlich zu erhöhen, ist ein moderater und sicherlich kein falscher Ansatz. In Grundzügen war er allerdings auch schon im Frühjahr bekannt. Wären die Wähler wirklich bei Schulz geblieben, hätte er die konkreten Zahlen schon damals geliefert? Programmatische Paukenschläge, die sich so mancher von Schulz und der SPD wünschen würden, sind zwar kein Ding der Unmöglichkeit. Zur DNA der großen Volksparteien zählen sie allerdings nicht. Und unabdingbare Voraussetzung für einen Wahlsieg (auch aus der Opposition heraus) sind sie erst recht nicht – im Gegenteil.

Es ist nicht so, dass Schulz und die SPD keine Fehler gemacht hätten. Dass er zu lange in der holsteinischen und westfälischen Provinz unterwegs war, sich zu selten aber auf der bundespolitischen Bühne und in den einschlägigen TV-Formaten blicken ließ, muss er sich wohl ankreiden lassen. Rot-Rot-Grün in der öffentlichen Wahrnehmung zu testen, um es dann wieder fallen zu lassen und durch eine Ampel zu ersetzen, zeugte nicht von Stärke. Andere Faktoren aber konnte und kann Schulz kaum beeinflussen. Dass die Wahlen im Saarland verloren gingen, war ihm nicht anzulasten, kratzte aber erstmals an seinem Nimbus. Schon vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen war der Schulz-Effekt (wenn überhaupt) nur noch so schwach ausgeprägt, dass von ihm kein oder zumindest nicht genügend Rückenwind ausging, um einem blasierten Amtsinhaber in Kiel und einer gescheiterten Regierung in Düsseldorf eine neue Chance zu geben. Schulz war mit einem Male ein geschlagener Mann.

Keine Wechselstimmung

Noch wichtiger aber ist etwas anderes: Eine Wechselstimmung in diesem Lande scheint es nicht zu geben, und es hat sie wohl auch im Januar/Februar nicht wirklich gegeben. Es wirkt im Nachhinein so, als hätten die Deutschen einen kurzen Augenblick mit einem anderen fremd gehen wollen, nur um zu testen, was das mit ihnen selbst und mit der Kanzlerin macht. Die hat reagiert, vor allem aber produzierte sie mit der Zeit immer mehr Bilder von internationalen Gipfeltreffen und scheint mit jedem Tweet von Donald Trump noch einmal an weltpolitischer Größe hinzuzugewinnen. Die Zeiten bleiben unsicher. Will man in einer solchen Situation wirklich das Personal im Kanzleramt austauschen? Die seit März steigenden Umfragewerte für die Union sprechen eine andere Sprache. Und wenn das nicht alles schon genug an Hypotheken für Schulz und die SPD wären, kommt noch eine weitere hinzu: Der dogmatische Kurs der Linken, vor allem in der Außenpolitik und verkörpert von Sahra Wagenknecht, macht ein rot-rot-grünes Bündnis unmöglich. Eine Machtoption weniger für Martin Schulz, viele hat er nicht.

Ein Fenster bleibt offen

Ist damit alles zugunsten Merkels und der Union entschieden? Kann ihr eine weitere Kanzlerschaft – egal in welcher Konstellation – überhaupt noch genommen werden? Die Erfahrungen mit den Wahlen der letzten Jahre sollten uns vorsichtig machen, doch scheint es im Augenblick schwer bis gar nicht vorstellbar, dass die SPD in den Umfragen noch einmal an der Union vorbeizieht. Vielleicht aber ist dies auch gar nicht nötig. Vielleicht kommt doch noch Musik in diesen Wahlkampf. Wenn die AfD so weitermacht wie in den letzten Monaten und womöglich doch nicht in den Bundestag einzieht, wenn die Grünen mit ihrem alles in allem überzeugenden Parteitag wieder an Fahrt aufnehmen sollten, wenn dann auch Schulz und die SPD endlich wieder in die Offensive gehen und Begeisterung unter ihren Leuten hervorrufen können, wenn schließlich Lindner meint, er könne in eine gemeinsame Koalition mit Anton Hofreiter eintreten (und umgekehrt auch), dann, ja dann könnte der Mann aus Würselen vielleicht doch noch das Kanzleramt beziehen. Zugegeben, das sind nicht gerade wenige „Wenns“. Doch ein Fenster bleibt offen.

Foto: Olaf Konsinsky

 

Ein Gedanke zu „Die vermeintlichen Fehler des Martin Schulz“

  1. wenn er noch erfolgreich sein will, sollte er aber zeitnah den Eindruck zerstreuen, er habe sein Pulver verschossen und dass er verbrannt sei. Auf taktische Fehler von Merkel zu hoffen oder gar auf eine Wechselstimmung ist zu wenig.

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